Erster Einstieg

1.

Wie muß man sich die Entstehung von Tochtersprachen eigentlich vorstellen ?
Und was sind überhaupt Sprachfamilien ?

Vom Wesen her ist eine sog. Sprachfamilie (z.B. Indoeuropäisch) nichts anderes als die letzte gemeinsame Sprache, die ihre Sprecher gesprochen haben, bevor sich die regionalen Dialekte der Sprache (die jede Sprache hat) so weit auseinander entwickelt haben, daß eine gemeinsame Verständigung nicht mehr möglich ist.

2.

Dies sei am Beispiel der indoeuropäischen Sprachfamilie erläutert:

Als die Indoeuropäer aus ihrem ursprünglichen Siedlungsgebiet aufbrachen, sprachen sie eine gemeinsame, jedem von ihnen verständliche Sprache. Es gab sicherlich regionale Mundarten und Dialekte, wie man sei ja auch heute noch hat. Aber im großen und ganzen konnte sich jeder mit jedem problemlos unterhalten.

Und wenn es im Laufe der Jahrhunderte / Jahrtausende zu Veränderungen der Sprache gekommen war – wie es in jeder Sprache üblich ist und ständig geschieht –, hatte sich sich an der gegenseitigen Verständlichkeit nichts geändert. Die Veränderungen erfaßten (wegen des engen Kontakts) sämtliche Sprecher gleichermassen.

Dies änderte sich entscheidend, als die Indoeuropäer zu ihrer langen (weit über 1000 Jahre dauernden) und weiten Reise (mehrere 1000 km in alle Richtungen) aufbrachen.

Auch jetzt gab es zwangsläufig weiterhin Veränderungen der Sprache, die jedoch nunmehr viel weitreichendere Auswirkungen hatten. Denn die Stämme, die sich bspw. in Frankreich oder Spanien niederließen, hatten naturgemäß keinen Kontakt mehr zu den Stämmen, die eine Region in Süditalien, Schweden, Persien oder Indien besiedelten.

 Die modernen Kommunikationsmittel, wie Radio, Zeitung, usw. waren ja noch nicht erfunden.

In der Folgezeit (und sicherlich auch schon kurze Zeit nach dem Aufbruch) entwickelten sich die einzelnen Dialekte daher immer weiter auseinander, bis man irgendwann (nach 100, 500 oder 1000 Jahren ?) nicht mehr von einer gemeinsamen Sprache mit verschiedenen Dialekten sprechen konnte, sondern (nur noch) von einer gemeinsamen Ursprache mit verschiedenen Sprachen.

Aus den einzelnen Dialekten sind somit eigenständige Sprachen geworden (= Tochtersprachen). Aus den Sprechern der „Sprache Indoeuropäisch / Dialekt des Dorfes Ylkyr“ sind Sprecher der Sprache „germanisch“ geworden, und aus den Sprechern der Mundart des Dorfes „Yrkitir“ jetzt Sprecher der Sprache „persisch“. Das Indoeuropäische ist mit der Geburt der ersten Tochtersprachen ausgestorben, so wie heute das Latein, das Hethitische und das Sanskrit.

3.

Und auch diese (neuen) Sprachen entwickelten sich weiter:

Die Nachkommen der Bewohner des Dorfes Ylkyr, die sich z.B. in Norddeutschland niedergelassen hatten und zwischenzeitlich (1000 Jahre nach ihrem Aufbruch) nicht mehr indoeuropäisch bzw. einen indoeuropäischen Dialekt sprachen, sondern den zur Sprache „Germanisch“ weiterentwickelten Dialekt, besiedelten das Land weiter und verbreiteten sich im Laufe der Zeit über immer größere Gebiete.

Und irgendwann (10, 20 oder 30 Generationen später) hatte sich die Sprache der Nachkommen, die sich 500 km entfernt niedergelassen hatten, so weit von der Ausgangssprache entfernt, daß man nicht mehr von der gemeinsamen Sprache „Germanisch“ sprechen kann, sondern von anderen, neuen Sprache sprechen muß. Zwar immer noch germanischenUrsprungs, jedoch nunmehr eigene Sprachen, wie gotisch, schwedisch, englisch, fränkisch, usw.

Diese Sprachen (gotisch, schwedisch, englisch, usw.) sind somit Tochtersprachen des Germanischen, das seinerseits eine Tochtersprache des Indoeuropäischen ist. die „modernen“ Sprachen wie deutsch, französisch, englisch, usw. sind somit sozusagen Enkelsprachen des Indoeuropäischen.

3.

Die Einzelheiten dieser Entwicklung werden im einzelnen eingehend vertieft an dem Beispiel der Entwicklungsgeschichte der romanischen Sprachen:

Aus der indoeuropäischen Ursprache haben sich nach der Ankunft der Indoeuropäer in Italien eine ganze Reihe eigenständiger Sprachen entwickelt, von denen sich der in Rom gesprochene Dialekt durchsetzt und sich im Zuge der Expansion Roms innerhalb recht kurzer Zeit (knapp 300 Jahre) über ganz Europa ausbreitet (so wie 2000 Jahre vorher die Indoeuropäer)

Und die Entwicklung verläuft auch jetzt parallel: Die in den einzelnen Provinzen / Gegenden gesprochenen Dialekte des Latein entwickeln sich im Laufe der Zeit zu eigenen Sprachen (Französisch, Italienisch, Spanisch, usw.), wobei die Muttersprache Latein ausstirbt.

Die Suche nach Ähnlichkeiten zwischen Sprachen und nach den Gesetzmäßigkeiten ihrer Entwicklung ist somit die Suche nach dem Ursprung der Sprachen, und damit letztlich eine Reise in die Vergangenheit.

Graphisch läßt sich dies etwa wie folgt darstellen: