Pidgins- und Kreolensprachen

A. Typische Bedingungen für das Entstehen von Pidgins und Kreolsprachen

Begriff: Pidgins und Kreolsprachen sind Kommunikationssysteme zwischen Menschen, die miteinander sprechen wollen, aber keine gemeinsame Sprache sprechen.

Sie werden auch als “Behelfssprachen” bezeichnet. Sie haben

  • einen begrenzten Wortschatz,
  • eine reduzierte grammatikalische Struktur und (im Vergleich mit den Sprachen, aus denen sie sich herleiten)
  • einen deutlich eingeschränkten Funktionsbereich

    Pidgins entstehen typischerweise in Kontaktsituationen zwischen Fremden, in denen eine Verständigung notwendig ist, aber keine gemeinsame Sprache existiert. Solche Situationen ergaben sich seit jeher im internationalen Handel oder in bestimmten Extremsituationen, wie Krieg, Kolonisierung oder Sklaverei.

    Man stelle sich bspw. einmal vor, man wäre Tourist in einem fernen Land mit freundlichen Menschen und mit Märkten, die von billiger Ware überquellen. Man will kaufen, und die Verkäufer wollen verkaufen. Aber wie tut man dies, ohne eine gemeinsame Sprache?

Zunächst wird man sich wohl mit Pantomime behelfen. Man zeigt auf Gegenstände, legt Münzen hin, spreizt die Finger als Zahlensymbol, signalisiert Zustimmung oder Ablehnung.

Wenn man länger vor Ort bliebe, würde man wahrscheinlich einige Wörter lernen, bspw. Die Namen verschiedener Früchte und Waren, Wörter für ”kaufen” und “verkaufen”, “ja” und “nein”, “kommen” und “gehen”, persönliche Fürwörter, Zahlwörter, usw.

Wesentlich schwieriger wäre das Erlernen der spezifischen grammatikalischen Strukturen der Sprache, ihre Beugung, Verbformen, Fallformen oder Besonderheiten des Satzbaus.

Daher weisen Pidgins, die in begrenzten Bereichen des Handels entstehen, eine sehr einfache Struktur und nur einen begrenzten Wortschatz auf.

Ein Beispiel für ein solches Handels-Pidgin ist Russenorsk , das im 19. Jahrhundert zwischen norwegischen Fischern und russischen Händlern in der dortigen Grenzregion entstand.

Es besaß ca. 300 Wörter und eine sehr einfache Grammatik.- Neuerdings gibt es eine sehr ausführliche Darstellung des Russenorsk (Entwicklungsgeschichte, Grammatik, Aussprache, Wortschatz, usw.).

Derartige Handels-Pidgins sind sicher seit Jahrtausenden unter Menschen benutzt worden, die zeitweiligen Kontakt hatten. Schon die alten Phönizier, Griechen, usw. werden sich zunächst in dieser Weise verständigt haben.

B. Wachsender Umfang in der Neuzeit

Einen enormen Aufschwung nahmen die Pidgins im Zusammenhang mit der Kolonisierung sowie dem Sklavenhandel und den Dienstverpflichtungen auf den tropischen Plantagen.

Sklave1Hier wurden Menschen mit völlig unterschiedlichem sprachlichem Hintergrund (meist aus Afrika und Asien) zusammengepfercht.

Je nach dem prozentualen Anteil der einzelnen Sprachgruppen lieferte dann die zahlenmäßig überwiegende Gruppe den wesentlichen Wortschatz. Meist war es eine europäische Sprache wie Englisch, Französisch oder Holländisch, die das Vokabular stellte.

Wohl die meisten Pidgins basieren auf europäischen Sprachen (Englisch, Französisch, Spanisch, Niederländisch und Portugiesisch), was auf den Kolonialismus zurückgeht.

Daneben gibt es aber auch eine Vielzahl von nichteuropäischen Pidgins. Eines der am besten Erforschten ist Chinook-Jargon, das einst von Indianern im Nordwesten der Vereinigten Staaten für den Handel gebraucht wurde. Ein weiteres ist Sango, eine pidginisierte Varietät des Ngbandi, das in weiteren Teilen des westlichen Zentralafrika gesprochen wird.

Die Annahme, daß (zahlenmäßig) die meisten Pidgins auf europäischen Sprachen basieren, ist jedoch umstritten. Möglicherweise beruht sie nur auf unserer mangelhaften Kenntnis der Sprachen, die in Teilen Afrikas, Südamerikas oder Südostasiens verwendet werden, wo häufig verschiedene Sprachen miteinander in Berührung kommen.

Die dortige Sprachenvielfalt dürfte fast zwangsläufig zu Pidgenisierung zumindest in den Randbereichen der einzelnen Sprachgruppen geführt haben.

C. Bedeutung der Pidgins und Kreolensprachen

Wohl aufgrund des sozialen Gefälles, das sich zwangsläufig aus den Umständen ergab, die zur Bildung von Pidgins geführt haben (Kolonisierung, Verschleppung, Sklavenhaltung, usw.), verband sich mit den Pidgins und Kreolensprachen von jeher die Vorstellung einer minderwertigen, rückständigen und zerrütteten Sprache.Sklave3

Dieses Bild verfestigte sich noch durch die stereotype Darstellung von Pidginsprachen, wie sie in Comics und Filmen seit Jahrzehnten verbreitet wird.

Das “Ich Tarzan, du Jane” – Klischee ist jedoch nicht nur überheblich und verletzend, sondern auch weit von der Realität entfernt.

Im Gegenteil: Pidgins sind nachweislich kreative Adaptionen natürlicher Sprachen und haben eine eigene Struktur und eigene Regeln. Zusammen mit den Kreolsprachen belegen sie den grundlegenden Prozeß des Sprachwandels, der sich vollzieht, wenn Sprachen miteinander in Berührung kommen, und der neue Varietäten hervorbringt, deren Strukturen sich verfestigen und ausdehnen.

Sie liefern den eindeutigen Nachweis dafür, daß Sprache von der Gesellschaft für ihre eigenen Ziele geschaffen und geformt wird, wenn sich Menschen neuen sozialen Gegebenheiten anpassen. Diese Wandlung spiegelt sich in den Begriffen Pidgenisierung und Kreolisierung wider.

D. Lebensdauer von Pidgins

Aufgrund ihrer begrenzten Funktion halten sich Pidginsprachen meist nicht sehr lange – manchmal nur wenige Jahre und selten länger als ein Jahrhundert.

Sie sterben, wenn der ursprüngliche Kommunikationszweck an Bedeutung verliert oder ganz verschwindet, also zum Beispiel die Sprechergruppen sich trennen oder eine Gruppe die Sprache der anderen lernt.

So verschwand bspw. das in Vietnam gesprochene französische Pidgin nach dem Abzug der Franzosen (nach der Schlacht bei Dien Bien Phu, 1954) fast völlig. In ähnlicher Weise ging das englische Pidgin, das während des amerikanischen Vietnam-Feldzuges aufgekommen war, nach Kriegsende praktisch unter.

Das Pidgin kann sich aber auch zu einer Kreolsprache entwickeln. So entstand das als Lingua franca oder Sabir im Mittelmeerraum bekannte Pidgin im Mittelalter und hielt sich als Kreolsprache bis ins 20. Jahrhundert

Manche Pidgins sind als Kommunikationsmittel zwischen mehreren Sprachen manchmal so nützlich geworden, daß ihnen eine förmlichere Rolle als reguläre Hilfssprachen zugestanden wird. Sie können sogar einen offiziellen Status als Verkehrssprache einer Gemeinschaft erhalten.

Man nennt sie in diesen Fällen ”erweiterte Pidgins”, da sie zusätzliche sprachliche Formen aufgenommen haben, um den Bedürfnissen ihrer Benutzer gerecht zu werden, und wesentlich vielseitiger als vorher verwendet werden. Mit der Zeit bürgern sich diese Sprachen teilweise auch im Rundfunk und in der Presse ein, evt. entsteht sogar eine eigene Literatur.

Zu den gebräuchlichsten erweiterten Pidgins gehören Krio (in Sierra Leone), das nigerianische Pidgin-Englisch und Bislama (in Vanuatu). In Papua-Neuguinea ist das örtliche Pidgin (Tok Pisin) die am weitesten verbreitete Sprache des Landes.

E. Kreolsprachen

Definition:
Eine Kreolsprache ist ein Pidgin, das zur Muttersprache einer Gemeinschaft geworden ist

Hieraus ergibt sich, daß Pidgin- und Kreolsprachen zwei Stadien eines sprachlichen Entwicklungsprozesses sind.

Zuerst beginnen innerhalb einer Gemeinschaft mehr und mehr Menschen das Pidgin als vorrangiges Kommunikationsmittel zu benutzen.

Als Folge davon hören ihre Kinder dieses häufiger als irgendeine andere Sprache, und allmählich nimmt es für sie den Status einer Muttersprache an. Im Laufe von einer oder zwei Generationen konsolidiert und verbreitet sich das Pidgin auf diese Weise als Muttersprache. Das Ergebnis ist eine Kreolsprache oder kreolisierte Sprache.

Kreolsprachen können eine große Bedeutung erlangen. So hat das auf der Insel Haiti (östlich von Cuba) gesprochene Haitanisch etwa 6 Mill. Sprecher. Es entstand unter den hauptsächlich französischen Seeräubern, die Haiti im 17. Jhdt. besiedelten, und Sklaven, die in Zuckerrohrplantagen importiert wurden.

Seit 1987 ist es neben Französisch offizielle Landessprache. Auch in Miami und New York gibt es große Emigrantengemeinden, die Haitanisch sprechen.

Der Übergang vom Pidgin zur Kreolsprache stellt große Anforderungen an eine Sprache. Sie erfordert von der Sprache eine umfassende Erweiterung der vorhandenen sprachlichen Ressourcen – vor allem hinsichtlich Wortschatz, Grammatik und Stil, die nun den täglichen Anforderungen gerecht werden müssen, die an eine Muttersprache gestellt werden.

Außerdem kommt es zu einer Umwälzung im Gesamtsystem der sprachlichen Gepflogenheiten der Gemeinschaft. Und hierin liegt der zweite Unterschied zwischen beiden Sprachen:

Pidgins sind ihrem Wesen nach Behelfssprachen: Sie werden neben bereits existierenden Sprachen erlernt, die in Struktur und Gebrauch wesentlich weiter entwickelt sind. Sie sind somit – zunächst einmal – eine reine Hilfskonstruktion, die nur so lange verwandt wird, wie es die Lage erfordert, die zur Entwicklung des Pidgins gezwungen hat (vgl. das französische Vietnam-Pidgin nach 1954)

Demgegenüber handelt es sich bei Kreolsprachen per se um selbständige Sprachen. Die Entwicklung einer Kreolsprache verläuft meist zum Nachteil anderer in einem Gebiet gesprochener Sprachen (anders als bei Pidgins). Doch kann sie auch selbst in Bedrängnis geraten..Wissensch8

Am wahrscheinlichsten sind hier Konflikte mit der Standardform der Sprache, aus der sich die Kreolsprache herleitet und die meist neben ihr weiterlebt. Die Standardsprache besitzt einen durch Sozialprestige, Bildung und Reichtum begründeten Status – nicht so die Kreolsprache, deren Wurzeln in einer Geschichte der Abhängigkeit und Sklaverei liegen.

Die Sprecher einer Kreolsprache stehen wegen des geringeren Ansehens somit zwangsläufig unter dem Druck, ihre Sprache in Richtung auf den Standard hin zu ändern. Diesen Prozeß nennt man Dekreolisierung.

Eine Konsequenz daraus besteht häufig in aggressiven Reaktionen gegen die Standardsprache – durch Kreolsprecher, die auf der Souveränität ihrer Kreolsprache und der Anerkennung der ethnischen Identität ihrer Gemeinschaft bestehen. Solche Reaktionen können zu einem deutlich veränderten Sprachverhalten führen, da die Sprecher sich auf das konzentrieren, was für sie die “reine” Form der Kreolsprache ist: Diesen Vorgang nennt man Hyper­kreolisierung.

Die Entwicklung von der Kreolisierung über die Dekreolisierung bis hin zur Hyperkreolisierung zeigt sich exemplarisch in der jüngeren Geschichte des Black English in den Vereinigten Staaten.

Die Erforschung der Kreolsprachen und der Pidgins, aus denen sie entstanden sind, ist von großem Interesse für Sprachwissenschaftler. Der von diesen Sprachen in so kurzer Zeit vollzogene Kreislauf sprachlicher Reduzierung und Erweiterung liefert ihnen faszinierenden Aufschluß über das Wesen des Sprachwandels.