Unterschiede zu den heutigen Sprachen

Die Strukturen und Eigenarten der prähistorischen Sprachen kennt man heute – überraschenderweise – recht genau, obwohl es naturgemäß keinerlei Aufzeichnungen oder direkte Zeugnisse aus dieser Zeit gibt. Die ältesten schriftlichen Belege reichen nur etwas weiter als 5.000 Jahre zurück (ägyptische Hieroglyphen, sumerische Keilschriften, usw.).

Unsere Kenntnisse über die prähistorischen Sprachen rührt daher, daß es heute noch eine Vielzahl von Völkern gibt (z.B. die afrikanischen „Buschmänner“, die australischen Aborigines oder die Südamerikanischen Indianerstämme), die auf der gleichen Entwicklungsstufe stehen wie die damaligen (prähistorischen) Menschen, nämlich derjenigen der Jäger und Sammler.

Bis vor einer Generation ernährten sich viele San (früher „Buschmänner“ genannt), die in und um die Wüste Kalahari in Südafrika leben, von der Jagd und vom Sammeln eßbarer Wurzeln und Früchte. Sie besaßen lediglich ihren Lendenschutz und die wenigen Waffen und Gebrauchsgegenstände, die sie mit sich trugen. Ihre Lebensweise und ihre Kultur waren die gleiche wie die der prähistorischen Menschen seit Tausenden und Hunderttausenden von Jahren vor ihnen.

Man muß lediglich akzeptieren, daß diese Kulturen nicht nur hinsichtlich ihrer Lebensweise, sondern auch in sprachlicher Hinsicht auf der gleichen Entwicklungsstufe wie ihre Vorfahren vor etwa 10.000 Jahren stehen, als es noch keine Landwirtschaft gab. Und hieran zu zweifeln gibt es keinen vernünftigen Anlaß.

Diese Menschen leben und sprechen so, wie fast alle Menschen in fast der gesamten Zeit ihrer Existenz gelebt und gesprochen haben.

Die Forschungsergebnisse, die man bei der wissenschaftlichen Beschäftigung mit den Sprachen der San-Völker gewonnen hat, beantworten zugleich die uralte Frage:

Waren die frühen Sprachen (z.B. vor 30.000 Jahren) so wie die heutigen?
Und worin unterschieden sie sich ggf.?


Man nahm bis zur Erforschung der Khoisan-Sprachen teilweise an, daß zwischen den Sprachen in Jäger-und-Sammler-Gesellschaften und „modernen“ Sprachen erhebliche Unterschiede bestehen würden. Man nahm ganz allgemein an, daß Sprachen in Gesellschaften mit einer weniger hoch entwickelten materiellen Kultur ebenfalls einfacher strukturiert und gewissermaßen weniger entwickelt seien als unsere Sprachen.

Aber dies ist nicht der Fall.

Um dieses Ergebnis näher begründen zu können, muß man näher festlegen, was man eigentlich unter der Formulierung versteht, eine Sprache sei hoch entwickelt oder unterentwickelt.

Denn Sprachen weisen eine ganze Reihe von Eigenschaften auf:

  1. Meint man das Sprachsystem, also die Laute, die Wortformen und die Art, wie die Sätze gebildet werden?
  2. Oder meint man den Wortschatz, also ob es etwa Wörter für alles gibt, was man sagen und verstehen will, und ob man subtile Bedeutungsnuancen ausdrücken kann und ob es mehrere Ausdrücke für differenzierende Aspekte eines Begriffes gibt.
  3. Oder meint man vielleicht auch die Schriftsprache und die Frage, wie viele Bücher in dieser Sprache veröffentlicht werden oder ob es gute Autoren der Sprache gibt.

Es ist klar, daß die Linguisten mit der Aussage, daß Khoisan- oder Indianersprachen genauso weit entwickelt sind wie die bedeutenden europäischen Sprachen, natürlich das Sprachsystem (oben a.) meinen.

Denn der Umfang des Wortschatzes (oben b.) hat nichts mit der Sprache an sich zu tun, sondern richtet sich nach dem Bedarf. So verfügen einige Sprachen über mehr als 200 Wörter für “gehen”, z.B.

chakvair  durch Schlamm gehen und dabei ein quatschendes Geräusch machen   mbwembwer  gehen und dabei mit dem ganzen Körper oder dem Gesäß wackeln
chwakatik beim Gehen Stöckchen knacken lassen   pfumbur gehen und dabei Staub aufwirbeln
dowor barfuß weit gehen   pushuk in sehr kurzem Kleid gehen
donzw mit einem Stock gehen   rauk mit großen Schritten gehen
duduk rückwärts gehen   rindimar hochmütig schreiten
kokonyar vornübergebeugt gehen   seser mit schwabbelndem Fleisch gehen
kunzvur ruhelos umhergehen   shwitair nackt oder fast nackt gehen
mbey ein Gebiet abgehen   svavair  vor Kälte oder Nässe zusammengekrümmt gehen
vefuk unter einer schweren Last gebeugt gehen   tabvuk  wie ein Grashüpfer auf so dünnen Beinen gehen, daß es aussieht, als ob man hüpfe
panh eine lange Strecke gehen   minair mit Hüftschwung gehen

Umgekehrt fehlen natürlich Wörter für Schnee, Winter, usw. sowie Wörter für technische, wissenschaftliche Begriffe, wie Auto, Hubschrauber, Computer, usw.

Aber gerade in diesem Bereich zeigt sich ja gerade die Leistungsfähigkeit eines voll entwickelten Sprachsystems (oben a.). Dieses muß es ermöglichen, bei entsprechendem Bedarf (z.B. beim Kontakt mit Fremden, die Autos, Hubschrauber und Computer benutzen), hierfür Begriffe in der eigenen Sprache zu entwickeln bzw. die von den Fremden hierfür verwandten Wörter als Fremdwörter in die eigene Sprache zu integrieren.

Und über diese Fähigkeiten verfügen die fraglichen Sprachsysteme zweifellos.

Und daß eine fehlende Schriftsprache (oben c.) kein maßgebliches Kriterium sein kann, liegt vollends auf der Hand. Mit der Einführung eines Schriftsystems ist dieses Hindernis spätestens nach einer Generation verschwunden, wie man es in weiten Bereichen der Welt erleben kann.