Sprachgenies

Über die Ungerechtigkeit der Welt

Bekanntlich sind nicht nur die materiellen Güter, sondern auch die Begabungen ungleichmäßig verteilt. Dies gilt in ganz besonderem Maße für die Sprachbegabung. Dabei ist der Grund, warum manche Menschen mehrere Dutzend Sprachen lernen können, immer noch ungeklärt.

1.

Die meisten Menschen sind schon froh, wenn sie 1 oder 2 Fremdsprachen einigermaßen gut beherrschen. Und mancher kommt trotz großer Anstrengungen nicht über das Schulfranzösisch und ein wenig gebrochenes Englisch hinaus. Und wieder andere - wie auch der Autor dieser Sprachenseite - verfügen zwar über einen recht großen Wortschatz (bspw. im Französischen), beherrschen auch die Grammatik bis in die Einzelheiten, sprechen auch ein recht passables Französisch, haben jedoch größte Mühe, gesprochene Texte zu verstehen.

Denn auch hier das Ganze mehr als die Summe seiner Einzelheiten. Es gilt offensichtlich nicht die Formel:

„Wortschatz + Grammatik + Fleiß = Sprache verstehen“

Manchen anderen fliegt eine fremde Sprache dagegen nur so zu. Scheinbar ohne große Mühe erlernen sie 3, 4 und auch mehr Sprachen und sind auch in der Lage, sich problemlos in ihnen zu unterhalten.

2.

Erklärt sich dies vielleicht aus dem bekannten Satz:

“Mit jeder Sprache, die man lernt, fällt die nächste ein wenig leichter“?

Sicherlich zum Teil: Denn wer Latein in der Schule gehabt hat, wird sich mit dem Erlernen von Französisch deutlich leichter tun. Und das anschließende Erlernen des Italienischen oder des Spanischen oder des Portugiesischen geht sicherlich schneller als ohne diese Vorkenntnisse.

Allerdings gilt dieser Satz m. E. nur für Sprachen, die einander ähnlich, also miteinander verwandt sind. Bei denen der Wortschatz, der Satzbau, die Struktur, usw. aufgrund ihrer gemeinsamen Herkunft und Vergangenheit deshalb eine Reihe von Ähnlichkeiten aufweisen.

Denn welchen Vorteil soll es beim Erlernen des Philippinischen oder Japanischen haben, wenn man perfekt französisch und italienisch spricht? Und selbst beim Erlernen von Polnisch oder Russisch würde die Beherrschung des Französischen oder Italienischen sicherlich nicht viel helfen, obwohl das Romanische immerhin zur gleichen Sprachfamilie wie die 2 genannten slawischen Sprachen gehören und daher mit den erwähnten romanischen Sprachen zumindest verwandt sind.

Der obige Satz hilft also m. E. nur bei miteinander verwandten Sprachen weiter, von den wirklichen Exoten ganz abgesehen, wie dem afrikanischen Khoisan mit seinen Schnalzlauten oder den kaukasischen Sprachen mit ihren Kehl- und Zischlauten! Aber auch diese und ähnliche Exoten haben viele der Sprachgenies in ihrem Repertoire.

3.

Vollends unerklärlich erscheint diese Sprachbegabung also, wenn es sich um unterschiedliche Sprachfamilien handelt. Denn dann fängt man mit dem Sprachenlernen ja jedesmal wieder „ganz von vorne an“.

Und genau hiermit scheinen die Sprachgenies, von denen hier die Rede ist, keine oder nur geringe Probleme zu haben. Die meisten sprechen eine ganze Vielzahl europäischer Sprachen, daneben aber auch z.B. Arabisch, Chinesisch, Türkisch und einiges mehr - also Sprachen, wie sie unterschiedlicher nicht sein könnten.

Der 51-jährige Libanese Ziad Fazah ist ein solches Genie. Er spricht 58 Sprachen fließend, darunter Chinesisch, Thailändisch, Griechisch, Indonesisch, Hindi und Persisch, also Sprachen aus ganz verschiedenen Sprachfamilien.. Die meisten dieser Sprachen hat er sich selbst beigebracht. Wichtig hierfür seien sehr viel Ausdauer und Disziplin, erklärt das Multitalent. Was man sich beinahe hätte denken können.Kletterer

Mit dieser außergewöhnlichen Sprachbegabung steht Fazah nicht allein: Es gab und gibt immer wieder solche Sprachgenies. Berühmt wurde beispielsweise der italienische Kardinal Giuseppe Mezzofanti (1774 bis 1849), der über 70 Sprachen fließend sprach. Bis heute hält sich das Gerücht, daß er die Sprachen gelernt habe, als er fremdsprachigen Gläubigen die Beichte abnahm.

Zwar nicht quantitativ (hinsichtlich der Anzahl der gesprochenen Sprachen), wohl aber qualitativ (vom Schwierigkeitsgrad her) können mit ihnen viele früherer Missionare und Kaufleute mithalten, die auch solche Exoten wie afrikanische Sprachen und südostasiatische Dialekte erlernt haben. Wohlgemerkt: Nur durch Zuhören, ohne Grammatiken, Wörterbücher und andere Hilfsmittel, die es ja noch nicht gab. Und die von ihnen dann gleich verfaßt wurden!Keilschrift1

Oder die Forscher, die untergegangene Sprachen entschlüsselt haben, nur anhand von Keilschriften, bei denen weder die Sprache noch die Schrift bekannt war. Und die sie sich teilweise erst besorgen mußten, 4.000 km entfernt von der zivilisierten Welt. All dies zu einer Zeit, als es weder Flugzeuge noch Autos gab. Wobei die Keilschriften, die teilweise in 60 m Höhe in steile Felsabhänge gemeißelt waren, an senkrechten Felswänden in schwindelnder Höhe von Hand abgezeichnet werden mußten, da es auch noch keinen Fotoapparat gab.

Wie gesagt: Ein Phänomen, das für die Meisten von uns unfaßbar ist - vor allem wenn man sich ein wenig mit den verschiedenen Sprachen beschäftigt hat: Ihre Andersartigkeit hinsichtlich Vokalreichtum (oder auch Vokalarmut!), Satzbau, Grammatik, Aussprache, usw. ist kaum vorstellbar.

4.

Die Sprachbegabung ist wohl tatsächlich ein Phänomen, das sehr ungleich verteilt ist. - Und fast ein wenig ungerecht: Denn viele, die fremde Sprachen über alles lieben (wie der Autor dieser Seite) tun sich trotz oft großem Aufwand an Zeit und Mühe schwer mit dem Erlernen fremder Sprachen. Und anderen - wie z.B. dem Bruder des Autors - fliegen fremde Sprachen Mühen nur so zu.

Genetische Ursachen kann es somit wohl nicht haben. Die Gene der beiden Brüder sind einander sicher so ähnlich, wie sie ähnlicher kaum sein können. Außer vielleicht bei Verwandten in gerader Linie.

Aber auch insoweit habe ich den Gegenbeweis in der Familie: Auch der Sohn des Autors gehört in die Kategorie der Sprachbegabten, denen fremde Sprachen nur so zufliegen. Er ähnelt damit seinem Onkel. Nur ausgerechnet der Autor ist hinsichtlich Sprachbegabung das „schwarze Schaf“ der Familie. ;-))

Wissenschaftliche Erklärungen hierfür

Woran liegt es aber, daß manche Menschen Sprachen mit einer solchen Leichtigkeit lernen, während andere kaum über das Schulenglisch und ein paar Brocken Urlaubsitalienisch hinauskommen? - Hierzu gibt es mehrere Auffassungen:

1.

Katrin Amunts (Forschungszentrum Jülich) hält genetische Gründe für entscheidend. Sie hat das Gehirn des deutschen Sprachgenies Emil Krebs untersucht, der bei seinem Tod im Jahr 1930 insgesamt 68 Sprachen beherrschte. Hierbei hat sie festgestellt, daß das sog. Broca-Zentrum (ein Hirnareal, das für die Sprachproduktion verantwortlich ist) bei Krebs anders strukturiert war als bei 11 Kontrollhirnen. Die „Zellarchitektur“ zeigte anders geartete Verschaltungen, wodurch Informationen möglicherweise schneller durch das Sprachzentrum geleitet werden konnte, wie die Wissenschaftlerin vermutet.

Doch um von einem eindeutigen Zusammenhang zwischen der Mikrostruktur des Broca-Zentrums und der Sprachbegabung sprechen zu können, wäre es erforderlich, mindestens 10 solcher Begabtengehirne zu untersuchen und zu vergleichen. Aufgrund ihrer Beobachtungen vermutet die Forscherin, daß Sprachbegabung genetisch veranlagt ist.

Was m.E. jedoch zur Folge hätte, daß zumindest auch die nahesten Familienangehörigen ebenfalls überdurchschnittlich sprachbegabt sein müßten, was offensichtlich nicht der Fall ist.

2.

Die Sprachwissenschaftlerin Ulrike Jessner-Schmid (Universität Innsbruck) geht mit einem anderen Ansatz an das Phänomen des Spracherwerbs heran:

„Jeder kann Fremdsprachen lernen, wenn er nur wirklich will“.

Natürliche Veranlagungen (wie bspw. das Hörvermögen) spielen ihrer Meinung nach nur eine untergeordnete Rolle. Der entscheidenden Punkt beim Erwerb von Sprachen sei vielmehr der Wille zur Integration:

„Kinder auf dem Spielplatz lernen Fremdsprachen so schnell, weil sie von ihren Spielkameraden akzeptiert werden wollen. Sie wollen sich integrieren und ein Teil der Gesellschaft sein.“

Diese Fähigkeit beschränke sich ihrer Meinung nach aber nicht nur auf Kinder.

„Auch Erwachsene können Fremdsprachen noch so gut wie ihre Muttersprache lernen, wenn sie sich auf Land und Leute einlassen. Beispiele dafür kennen wir genug.“

Mit einem Augenzwinkern rät sie deshalb auch ihren Studentinnen:

„Wenn ihr Englisch lernen wollt, geht nach England und sucht euch dort einen Freund!“.

Die Wirksamkeit dieser Empfehlung kann der Autor nur bestätigen.

Auf die entscheidende Frage, wie jemand 70 Sprachen lernen kann, hat sie aber auch keine plausible Antwort. „Wenn man überlegt, wie viel Zeit und Ressourcen es kostet, eine Sprache zu lernen und sie zu erhalten, muß man davon ausgehen, daß diese Menschen ihr Leben lang nichts anderes getan haben.“

3.

Für andere Wissenschaftler (wie Andrea Mechelli vom University College in London) spielen beim Spracherwerb auch die Hirnstrukturen eine wesentliche Rolle.

In einer Studie verglichen die Forscher die Sprachzentren von einsprachig- und zweisprachig aufgewachsenen Menschen anhand von Magnetresonanz-Aufnahmen.

Die Probanden, die zweisprachig aufgewachsen waren, besaßen eine höhere Dichte an grauer Hirnsubstanz als die Personen, die nur eine Sprache erlernt hatten. Je früher die Probanden die zweite Sprache erworben hatten, um so dichter war die graue Hirnmasse. Die grauen Zellen wuchsen also mit den Anforderungen, die an sie gestellt wurden.

4.

Auch wenn sich somit Neurologen und Sprachwissenschaftler noch uneinig sind über die Ursachen von besonderen Sprachbegabungen, gilt zumindest eines als erwiesen: Die Intelligenz spielt beim Spracherwerb keine Rolle.

Ein eindrucksvolles Beispiel dafür ist der geistig behinderte Christopher, der sich seit seinem sechsten Lebensjahr für Sprachen und fremdsprachige Texte begeistert und sich heute in mehr als 19 Sprachen ausdrücken kann.
Eine sog. Inselbegabung (also eine außergewöhnliche Begabung von geistig behinderten Menschen) ist auch bei Kindern mit dem Down-Syndrom beobachtet worden. Obwohl Menschen mit einer Inselbegabung im allgemeinen einen Intelligenzquotienten von unter 70 haben, sind sie auf einzelnen Gebieten zu herausragenden Leistungen fähig.

Über einen besonders sprachbegabten Menschen, der mindestens 68 Sprachen fließend bis perfekt gesprochen hat, und der sich in weiteren rund 30 Sprachen verständigen konnte, wird hier berichtet.